Argumente zum Vertrag von Lissabon

Veröffentlicht am 04.12.2009 in Europa

Am 1. Dezember 2009 ist der Vertrag von Lissabon nach langen Verhandlungen endlich in Kraft getreten und der Europäischen Integration wurde eine neue Rechtsgrundlage verschafft. Eine sozialdemokratische Bewertung dieses Vertrages von Cornelius Funke aus Frankfurt (Oder)
finden Sie auf der nächsten Seite

Der Vertrag von Lissabon – eine sozialdemokratische
Bewertung

Am 3.11.2009 hat mit der Tschechischen Republik auch das letzte Mitglied der Europäischen Union den Vertrag von Lissabon ratifiziert. Nach einer langen institutionellen und mit Rückschlägen und Umwegen verbundenen Odyssee kommt damit ein Prozess zu seinem Ende, der als Verfassungsdiskurs bereits im Jahr 2001 begann.

Doch was sind eigentlich die zentralen Inhalte des Vertrags von Lissabon?
Er enthält nicht alles, was Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gerne darin festgehalten hätten, denn er ist ein Kompromiss zwischen den Interessen von 27 europäischen Ländern. Für uns ist entscheidend: Der Vertrag bringt den europäischen Integrationsprozess
deutlich voran, und er ist eine gute Grundlage für die künftige Gestaltung von Europapolitik.
Der lange Weg zu einer Reform der Union Auf dem im Dezember 2001 in Laeken tagenden Europäischen Rat beschlossen die Staats- und Regierungschefs der EU die Einrichtung eines Verfassungskonvents aus
Vertretern der mitgliedstaatlichen Parlamente und Regierungen sowie der europäischen Institutionen. Nach umfangreichen Beratungen präsentierte der Konvent im Juli 2003 einen Entwurf für einen Vertrag für eine europäische Verfassung. Im Oktober 2004 wurde dieser Vertrag über eine Verfassung für Europa in Rom von den Regierungen
der Mitgliedstaaten unterzeichnet. Er sollte die bisherigen Grundlagenverträge zur EG und EU ablösen und der Union eine einheitliche Struktur und Rechtspersönlichkeit verschaffen sowie institutionelle Reformen vorantreiben.
Im Mai und Juni 2005 scheiterte der Verfassungsvertrag jedoch in Referenden in Frankreich und den Niederlanden, die den Vertrag ratifizieren sollten, so dass dieser nicht in Kraft treten konnte. Es folgte eine Reflexionsphase, in der verschiedene Optionen zur Reform der EU und zur Rettung der ausgearbeiteten Vertragsbestandteile
geprüft und diskutiert wurden. 2007 beschloss der Europäische Rat, einen möglichen erneuten Anlauf zur Ratifizierung des Verfassungsvertrags aufzugeben, wesentliche Inhalte aber in den Vorschlag für einen neuen Reformvertrag zu überführen. Dieser wurde im Dezember 2007 von den Staats- und Regierungschefs in Lissabon unterzeichnet.
Im Juni 2008 scheiterte der sog. Vertrag von Lissabon jedoch in einem Referendum in Irland. Nach politischen Zugeständnissen im Hinblick auf „nationale Besonderheiten“ stimmten die Bürgerinnen und Bürger Irlands im Oktober 2009 erneut über den Vertrag von Lissabon ab und gaben diesmal grünes Licht zur Ratifizierung.
In Deutschland wurden Verfassungsklagen gegen den Vertrag vom Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen, der Gesetzgeber musste aber vor der Vertragsratifizierung neue Begleitgesetze auf den Weg bringen. In Polen und Tschechien mussten erhebliche Widerstände der Staatspräsidenten ausgeräumt werden.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben uns seit langem für eine umfassende Reform der Europäischen Union engagiert und für das Inkrafttreten des Vertrags eingesetzt. Denn mit dem bislang gültigen Vertrag von Nizza ist die erweiterte Union nur bedingt handlungs- und zukunftsfähig. Der neue Vertrag von Lissabon hingegen stärkt das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente erheblich, er bringt mehr direkte Mitwirkungsrechte für die Bürgerinnen und Bürger Europas, er verbessert die institutionelle Struktur der Europäischen Union und schafft Rechtsverbindlichkeit für die EU-Grundrechtecharta. Er bringt uns auch dem sozialen Europa ein Stück näher.

Wozu braucht die EU eine neue rechtliche Grundlage?
Die Europäische Union ist in den letzten Jahren stark gewachsen. Seit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens am 1. Januar 2007 sind 27 Staaten Mitglieder der EU. Mit dem derzeit gültigen Vertrag von Nizza lässt sich dieses größere Europa nicht immer effizient steuern, vor allem aber mangelt es der Europäischen Union an Demokratie.
Außerdem wird der alte Vertrag, der schon im Jahr 2000 verabschiedet wurde, den neuen globalen Herausforderungen nicht gerecht. Ursprünglich sollte der Vertrag von Nizza durch einen umfassenden Verfassungsvertrag ersetzt werden, der jedoch bei Referenden in Frankreich und den Niederlanden 2005 scheiterte. Deutschland hat
sich während seiner Präsidentschaft im 1. Halbjahr 2007 dafür stark gemacht, möglichst viele Aspekte der Verfassung in einen neuen Reformvertrag einzubringen. Die Verhandlungen über diesen neuen Grundlagenvertrag zwischen den 27 Staaten waren extrem schwierig, und einige sozialdemokratische Positionen ließen sich dabei leider nicht durchsetzen. Wir sind dennoch überzeugt, dass dieser neue Vertrag, der Vertrag von Lissabon, notwendig ist, weil er die Europäische Union demokratischer, effizienter, handlungsfähiger, solidarischer und sozialer macht und eine gute Grundlage für die Gestaltung von Europapolitik bildet. Denn eins ist klar: Ein Vertrag bietet lediglich die Grundlage für Politik. Nun gilt es, seine Möglichkeiten gezielt zu nutzen, um fortschrittliche Politik in Europa weiter umzusetzen.

/// Die konsolidierte Fassung des Vertrag von Lissabon ist verfügbar unter der Internet- Adresse:
http://consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload/st06655-re01.de08.pdf
\\

Europa wird demokratischer
Mit dem Vertrag von Lissabon erhält das Europaparlament praktisch die volle Mitwirkung an der europäischen Gesetzgebung. 95% aller Gesetzgebungsakte werden in Zukunft vom Parlament gleichberechtigt mit dem Rat entschieden. Bei der Erstellung und Verabschiedung des Haushalts wird das Parlament zusammen mit dem Rat als gleichberechtigtes Haushaltsorgan uneingeschränkt über alle Ausgaben der EU mitentscheiden. Ihm obliegt in Zusammenarbeit mit den nationalen Parlamenten die parlamentarische Kontrolle der EU-Verteidigungspolitik und der EU-Militärmissionen.
Auch gegenüber der Europäischen Kommission wird das Parlament gestärkt. Der Präsident der Kommission wird vom Parlament direkt gewählt, und die gesamte Kommission braucht die Zustimmung des Parlamentes. Zwar bleibt das Vorschlagsrecht für den Kommissionspräsidenten weiter beim Europäischen Rat, er muss jedoch
bei seinem Personalvorschlag die Ergebnisse der Europawahlen berücksichtigen und das Parlament konsultieren. Damit muss sich die Kommission stärker als heute gegenüber Parlament und Öffentlichkeit rechtfertigen. Die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament wird eine Personalisierung und Politisierung der Europawahlkämpfe befördern und sollte die einzelnen europäischen politischen Parteien darin bestärken, mit Spitzenkandidat/innen für das Amt des Kommissionspräsidenten anzutreten.

Neben dem Europäischen Parlament werden auch die nationalen Parlamente gestärkt.
Sie erhalten mehr Mitwirkungs- und Kontrollrechte und können Einspruch gegen Gesetzgebungsvorschläge der Kommission erheben, wenn sie dadurch nationale Zuständigkeiten gefährdet sehen. Ein Drittel der nationalen Parlamente kann die Überprüfung einer möglichen Verletzung des Subsidiaritätsprinzips in einem Gesetzentwurf verlangen. In diesem neuen Verfahren werden auch die Länderkammern, wie der deutsche Bundesrat, gleichberechtigt einbezogen.
Aufgewertet wird ferner die Zivilgesellschaft durch die Einführung eines „Zivilen Dialogs“, an dem die Verbände und Interessenvertreter/innen beteiligt sind. Die Bürgerinnen und Bürger werden verstärkt in die Politikgestaltung auf europäischer Ebene einbezogen. Sie erhalten über die Europäische Bürgerinitiative ein legislatives Aufforderungsrecht wie es die beiden Gesetzgebungsorgane Rat und Parlament bereits besitzen, d. h. die Bürgerinnen und Bürger können künftig im Rahmen eines formalisierten Verfahrens direkt europäische Gesetze anstoßen. Eine Million Menschen aus mehreren Mitgliedstaaten können die Kommission auffordern, einen Rechtsetzungsvorschlag zu entwickeln. Bei dieser Möglichkeit handelt es sich zwar nicht um einen europäischen Bürgerentscheid doch durch die erstmalige Einführung direkter supranationaler Demokratie erhalten die Bürgerinnen und Bürger völlig neue Möglichkeiten, europäische Gesetzgebung unmittelbar mit zu beeinflussen.
Der Vertrag von Lissabon verpflichtet die Europäische Union, der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) beizutreten.
Die Grundrechtecharta erhält volle Rechtsverbindlichkeit, auch wenn ihr Text nicht Bestandteil der Verträge ist. Die Charta, die die Rechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber allen Organen und Einrichtungen der EU fixiert, geht von der Unteilbarkeit der Grund- und Menschenrechte aus. Sie enthält eine Reihe von sozialen Grundrechten,
weshalb sie bei (Neo-)liberalen nicht hoch im Kurs steht. So garantiert die Charta die Tarifvertragsfreiheit, das „Recht zu arbeiten“, das Recht auf Zugang zu sozialen und Gesundheitsleistungen sowie Diensten der Daseinsvorsorge. Es ist zu beachten, dass die Charta nur für Gemeinschaftsakte (nicht für Handlungen der Mitgliedstaaten)
verbindlich ist. Leider wurde die Charta nicht in allen Staaten in allen
Teilen akzeptiert, so dass der Vertrag für die Anwendung in Großbritannien, Polen und Tschechien Ausnahmeregelungen vorsieht.
/// Die Kritiker behaupten, der Vertrag von Lissabon mache die EU zu einem machtvollen „Superstaat“, der künftig in allen Bereichen über die Mitgliedstaaten hinweg entscheiden kann und so die Demokratien untergräbt.
+++ Richtig ist, dass auch in Zukunft die meisten EU-Rechtsakte der Umsetzung durch nationale Gesetzgebung bedürfen. Zudem werden die Rechte der nationalen Parlamente erheblich gestärkt. \\

Europa wird effizienter
Durch den Vertrag von Lissabon erhält die EU nicht nur eine klarere Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Union und Mitgliedstaaten. Für die Handlungsfähigkeit der EU ist bedeutsam, dass der Vertrag einen wichtigen Schritt weg von der Einstimmigkeit im Rat macht und die qualifizierte Mehrheitsentscheidung als Regel einführt. Künftig wird in 40 zusätzlichen Politikbereichen (vor allem in den Bereichen Einwanderung und polizeiliche Zusammenarbeit) mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt. Geändert wird ab 2014 auch die Definition der qualifizierten Mehrheit – es wird das Prinzip der doppelten Mehrheit eingeführt. Eine qualifizierte Mehrheit wird demnach erreicht, wenn mindestens 55% der Staaten zustimmen, die mindestens 65% der EU-Bevölkerung vertreten. Diese Regelung kommt insbesondere großen Mitgliedstaaten wie Deutschland entgegen. Aus sozialdemokratischer Sicht ist es allerdings bedauernswert, dass die qualifizierte Mehrheit nicht auf weitere Politikbereiche, wie z.B. die Steuerpolitik, ausgeweitet wird. Bisher rotierte die Ratspräsidentschaft jedes halbe
Jahr zwischen den Mitgliedstaaten. In Zukunft wird ein neuer ständiger Präsident des Europäischen Rates für zweieinhalb Jahre gewählt, der die Arbeit auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs vorantreiben und die Kontinuität der Arbeit gewährleisten soll. Auch im Ministerrat wird durch die Einführung von 18-monatigen Teampräsidentschaften
aus drei Mitgliedstaaten für mehr Kontinuität gesorgt.
Um die Effizienz der Europäischen Kommission zu steigern, soll die Anzahl der Kommissare auf zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten verringert werden. Zwar wird nicht jedes Land immer einen Kommissar stellen können, aber es ist sichergestellt, dass kein Mitgliedstaat bevorzugt und keiner benachteiligt wird. Auch das Europaparlament
wird auf 751 Sitze verkleinert. Europa wird handlungsfähiger.
Europas Rolle in der Welt Mit dem Vertrag von Lissabon wird die Möglichkeit der EU, Außenpolitik zu gestalten, gestärkt. Europa erhält ein Gesicht in der Welt: Künftig gibt es nur noch einen Hohen Vertreter der EU für Äußere Angelegenheiten und Sicherheitspolitik. Die Bezeichnung lautet zwar nicht Außenminister, aber der Hohe Vertreter als Vizepräsident der Kommission und Vorsitzender des Rates der Außenminister in einer Person wird eine Brücke zwischen Rat und Kommission schlagen und der EU zu mehr globaler Handlungsfähigkeit verhelfen. Der Hohe Vertreter wird auch dem Europäischen Parlament
gegenüber verantwortlich sein. Unterstützt wird der Hohe Vertreter durch einen neu zu schaffenden Europäischen Auswärtigen Dienst. Zusammensetzen wird sich dieser Dienst aus Vertretern des Ratssekretariates, der Kommission und Diplomaten aus den Mitgliedstaaten. Der Vertragstext lässt in Bezug auf die exakten Tätigkeitsfelder des Auswärtigen Dienstes und auch auf die genaue Ausgestaltung des Amtes des Hohen Vertreters Vieles offen. Der Erfolg der künftigen EU-Außen- und Sicherheitspolitik wird daher sehr von den konkreten Umsetzungsschritten abhängen.
Die EU-Staaten werden auch verpflichtet, im Katastrophenfall oder bei Terrorangriffen solidarisch zu handeln. Auf Ersuchen eines Mitgliedstaates, der Opfer eines Terroranschlags oder einer Naturkatastrophe wird, leisten die anderen Länder Unterstützung.
Solidarisches Handeln zwischen den EU-Staaten wird auch in der Energiepolitik verpflichtend. Die Europäische Union erhält darüber hinaus in den Themenbereichen Energieversorgung und Klimawandel umfassende neue Zuständigkeiten.
/// Die Kritiker behaupten, der Vertrag von Lissabon schaffe die Grundlagen für eine Militarisierung der EU durch Zentralisierung von außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Entscheidungen. +++ Richtig ist, dass Beschlüsse zur Außen-, Sicherheits-
und Verteidigungspolitik auch weiterhin nur einstimmig von allen EU-Staaten gefasst werden dürfen. Der Vertrag von Lissabon nennt die Konfliktverhütung, die Konfliktnachsorge und Abrüstungsmaßnahmen explizit als Ziele einer gemeinsamen Strategie zum Erhalt des Friedens in der Welt. \\

Europa wird sozialer und solidarischer
Mit der Einführung der neuen horizontalen Sozialklausel müssen bei der Gestaltung und Umsetzung aller gemeinschaftlichen Vorhaben die sozialen Ziele der EU, wie die Förderung eines „hohen Beschäftigungsniveaus“, die Gewährleistung eines „angemessenen
Sozialschutzes“, die „Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung“ sowie ein
„hohes Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung“ bei der Durchführung aller Politiken berücksichtigt werden. Dadurch wird eine bessere Balance zwischen sozialen und wirtschaftlichen Gewährleistungen des Vertrags hergestellt. Auch wenn es nicht immer so scheint: Der Europäische Gerichtshof nimmt oftmals eine Abwägung
verschiedener Vertragsziele vor. Deswegen ist diese Änderung nicht zu unterschätzen.
Im Vertrag von Lissabon wird das kommunale Selbstverwaltungsrecht als Bestandteil der nationalen Identität der Mitgliedstaaten erstmals anerkannt: „Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen
einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt.“
Damit wird erstmals einer Kernforderung der Kommunen nachgekommen, die seit langem eine Verankerung der kommunalen Selbstverwaltung im europäischen Primärrecht gefordert haben. Dies ist insbesondere deshalb von großer Bedeutung, weil damit der Gestaltungsspielraum der Kommunen durch Gerichtshof und Kommission
über die Anwendung des Wettbewerbsrechts nicht weiter eingeschränkt wird.
Dieser Artikel ist somit als echter Fortschritt zu werden.
/// Die Kritiker behaupten, im Vertrag von Lissabon werde die bisherige unsoziale und rein marktliberale Politik der EU festgeschrieben. +++ Richtig ist, dass erstmals das Prinzip des „unverfälschten Wettbewerbs“ nicht mehr das zentrale Ziel, sondern nur noch ein Instrument der Gemeinschaft ist. Neben einem ausgewogenen Wirtschaftswachstum zählen künftig auch das Erreichen von Vollbeschäftigung, der soziale Fortschritt, die Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung und von Diskriminierungen, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen, die Preisstabilität oder der Umweltschutz und die Verbesserung der Umweltqualität zu den grundlegenden Anliegen der EU. Die rechtsverbindlich werdende Grundrechtecharta stärkt die soziale Dimension Europas. \\

Schutz der Daseinsvorsorge
Der Europäische Vertrag von Lissabon enthält nun erstmals in einer Protokollnotiz eine Auslegung des Art. 16 des EG-Vertrages (neu nun Artikel 14) über die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (Daseinsvorsorge). Das Zusatzprotokoll Nr. 9 hat folgenden Wortlaut:
"Protokoll über Dienste von allgemeinem Interesse Die Hohen Vertragsparteien – in dem Wunsch, die Bedeutung der Dienste von allgemeinem Interesse hervorzuheben, sind über folgende auslegende Bestimmungen übereingekommen, die dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Union beigefügt sind:
Artikel 1
Zu den gemeinsamen Werten der Union in Bezug auf Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne von Artikel 16 des EG-Vertrags zählen insbesondere:
. die wichtige Rolle und der weite Ermessensspielraum der nationalen, regionalen und lokalen Behörden in der Frage, wie Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse auf eine den Bedürfnissen der Nutzer so gut wie möglich entsprechende Weise zu erbringen, in Auftrag zu geben und zu organisieren sind;
. die Verschiedenartigkeit der jeweiligen Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und die Unterschiede bei den Bedürfnissen und Präferenzen der Nutzer, die aus unterschiedlichen geografischen, sozialen oder kulturellen Gegebenheiten folgen können;
. ein hohes Niveau in Bezug auf Qualität, Sicherheit und Bezahlbarkeit, Gleichbehandlung und Förderung des universellen Zugangs und der Nutzerrechte.
Artikel 2
Die Bestimmungen der Verträge berühren in keiner Weise die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, nichtwirtschaftliche Dienste von allgemeinem Interesse zu erbringen, in Auftrag zu geben und zu organisieren."
Auch dieses Protokoll hebt die Bedeutung der „sozialen Dimension“ gegenüber der reinen Binnenmarktlogik hervor. Hier wird zum ersten Mal im europäischen Primärrecht die Zuständigkeit und der weite Ermessensspielraum der nationalen, regionalen und lokalen Behörden bei der Erbringung, Organisation und Auftragsvergabe der „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ im Rahmen des geltenden
Rechts festgehalten. Außerdem wird der Begriff „Dienstleistungen im Allgemeinen Interesse“ erstmals in das europäische Primärrecht eingeführt und betont, dass ihre Zuständigkeit bei den Mitgliedstaaten liegt.
Insgesamt ist zu konstatieren, dass die Dominanz des einseitig liberalistisch interpretierten Binnenmarktbegriffs gelockert wird. Die Zielsetzung der Errichtung eines gemeinsamen Binnenmarktes wird im Vertrag von Lissabon ausdrücklich um das Ziel einer wettbewerbsfähigen sozialen und ökologischen Marktwirtschaft ergänzt. Es wurde somit ein verbessertes Gleichgewicht zwischen sozialen und wirtschaftlichen Zielen erreicht, das es in der politischen Tagespraxis durchzusetzen gilt.
/// Die Kritiker behaupten, mit dem Vertrag von Lissabon sei der vollständigen und unumkehrbaren Privatisierung der Leistungen Öffentlicher Dienste Tür und Tor geöffnet.
+++ Richtig ist, dass das Protokoll eine andere Sprache spricht. Regionale Besonderheiten werden zugelassen, was beispielsweise eine Ausnahme kommunaler Gas-, Wasser- oder Stromanbieter vom reinen Wettbewerb bedeuten kann. \\

Rolle von Kommission und Europäischem Gerichtshof
Kommission und Europäischer Gerichtshof treten immer wieder mit Aussagen und Urteilen in Erscheinung, welche Beobachter zumindest verwundern. Dies liegt oftmals jedoch an der bisherigen vertraglichen Grundlage, welche eine einseitig neoliberale Interpretation befördert hat. Teilweise drängt sich allerdings der Eindruck auf, dass die Veränderungen der Verträge, welche bereits seit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 vorgenommen werden, noch nicht in das Bewusstsein dieser Institutionen vorgedrungen sind. Jüngstes Beispiel ist das sog. „Rüffert“-Urteil des EuGH, in dem dieser Tariftreueregelungen im niedersächsischen Vergaberecht für
europarechtswidrig erklärt hat – zur Überraschung vieler Beobachter. Dennoch: Wie auch in der nationalen Politik hilft nicht Totalverweigerung, sondern konstruktive Mitgestaltung des europäischen Politikprozesses. Nur wenn wir kontinuierlich soziale
und ökologische Standards einfordern, werden wir – Schritt für Schritt – Gehör finden.
Der Vertrag von Lissabon bietet – wie dargestellt – eine verbesserte Grundlage hierfür. Nun gilt es, auf dieser Grundlage praktische, sozial-ökologische europäische Reformpolitik zu machen.

Unsere Position
Der Vertrag bietet die Grundlage dafür, progressive europäische Politik zu gestalten und Europa sozial und ökologisch zu erneuern. Die Europäische Union ist ein Vorreiter im Klimaschutz. Der Binnenmarkt bietet der exportorientierten deutschen Wirtschaft – 60 % der deutschen Exporte gehen in die EU – große Chancen. Im Bereich von Spitzenforschung und Hochtechnologie ist gemeinsames europäisches Auftreten in Zukunft von zentraler Bedeutung. Der Vertrag von Lissabon bietet hierfür neue Möglichkeiten.
Trotz verbleibender Kritikpunkte insbesondere im Hinblick auf die nach wie vor zu starke neoliberale Ausrichtung des Vertrags ist es zu begrüßen, dass der Grundlagenvertrag nun nach jahrelangem Tauziehen um eine umfassende Reform der Europäischen Union endlich in Kraft treten kann, denn mit dem Vertrag von Nizza ist die erweiterte Union nicht ausreichend zukunftsfähig. Der Vertrag von Lissabon hingegen bringt mehr Demokratie, mehr Mitwirkungsrechte für die Bürgerinnen und Bürger Europas, er verbessert die institutionelle Struktur der Europäischen Union und schafft Rechtsverbindlichkeit für die umfassende Grundrechtecharta. Er bringt uns auch dem sozialen Europa einen Schritt näher.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wissen, dass der Vertrag von Lissabon einen Kompromiss insbesondere zwischen den sehr unterschiedlichen Vorstellungen über das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell darstellt. Unsere eigenen Vorstellungen von einer sozialen und demokratischen Europäischen Union bleiben
weiter bestehen. Wir werden uns weiter dafür einsetzen, dass
.. eine soziale Fortschrittsklausel in den Vertrag aufgenommen wird, welche die soziale Dimension der Union und die Daseinsvorsorge stärkt
.. die Rechte des europäischen Parlaments weiter gestärkt werden und die Kommission dem Parlament ähnlich einer Regierung Rechenschaft schuldet
.. die Voraussetzungen geschaffen werden, dass die Union langfristig eine eigene Einnahmequelle erhält
.. die Grundrechte insbesondere gegenüber den wirtschaftlichen Freiheiten weiter gestärkt werden
.. die Formulierungen im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik so geändert werden, dass der Schwerpunkt klar auf der zivilen Konfliktprävention und –bewältigung liegt

Mit dem Vertrag von Lissabon wird die Handlungsfähigkeit der erweiterten EU wieder hergestellt und die Integrationspause beendet. Auf dieser Grundlage werden wir konsequent unser Ziel eines sozialdemokratisch geprägten Europas verfolgen.

 
 

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